Keine Frage der Intelligenz

22.02.2014 CJD Siegen-Wittgenstein « zur Übersicht

Keine Frage der Intelligenz

CJD bietet spezielles Training bei Legasthenie und Dyskalkulie auch für Schüler

Birkelbach.Für Marvin Jüngst hätte es auch anders laufen können. Aber „hätte“ ist so ein Wort, das die Welt eigentlich nicht braucht. Der 19-Jährige absolviert aktuell eine Ausbildung zum Beikoch beim Christlichen Jugenddorf-Werk Deutschland (CJD) Siegen-Wittgenstein am Standort Birkelbach. Das mit der vorigen Ausbildung hat nicht funktioniert, auch die Schulkarriere verlief suboptimal, oft glänzte er durch Abwesenheit. Aber Förderschule? Man kann es kaum glauben, wenn man ihm zuhört, denn Marvin weiß sich sehr gewandt auszudrücken. Und doch war es so. Erst im Zuge seiner Ausbildung am CJD entdeckte man, dass der junge Mann an Legasthenie leidet. Dass er in der Schule und später in der Lehre nicht mitgekommen ist, hatte Gründe. Aber mit Faulheit, wie Lehrer ihm das unterstellten, hatten die wenig zu tun. Für Andreas Machenheimer und Silke Groß, beide ausgebildete Lerntrainer für Legasthenie und Dyskalkulie, sind Fälle wie Marvin „schade, aber nicht ungewöhnlich“, wie Groß es ausdrückt. Oft werden Lernschwächen erst spät aufgedeckt, weshalb einige der CJD-Auszubildenden an einem seit drei Jahren hier angebotenen speziellen Lerntraining teilnehmen.

So wie Marvin eben, damit aus „spät“ nicht „zu spät“ wird. Da es aber immer früher losgeht mit zunächst oft diffusen Lernproblemen in der Schule, geht das CJD mit seinem Angebot jetzt gezielt in die Öffentlichkeit. Denn das Training steht nicht nur den eigenen Azubis zur Verfügung, auch Kinder und Jugendliche von außerhalb haben

Zugang. „Wir haben bisher keinerlei Werbung dafür gemacht“, erklärt Andreas Machenheimer. Es sei über das eigene Netzwerk oder eben Mund-zu-Mund-Propaganda gelaufen. Insgesamt betreuen Machenheimer und Groß derzeit acht Kinder und Jugendliche, die an

Legasthenie, einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder Dyskalkulie leiden. Machenheimer hat eines beobachtet: „Die Not der Eltern wird immer größer.“ In den vergangenen drei Wochen hat er, wie er sagt, 13 Testungen bei Kindern durchgeführt, die in der Schule nicht mehr mitkamen. Die Schulform spielt dabei keine Rolle – „das ganze Spektrum wird abgedeckt“. Es ist die klassische Spirale: Schlechte Noten erzeugen Druck beim Kind und bei den Eltern selber, Druck wiederum führt zumeist zu gar nichts, oft sind Eltern mit der Hausaufgabenbetreuung ihres vermeintlich begriffsstutzigen Kindes auch überfordert. Hinzu kommt der Druck von außen, denn Kinder werden immer früher zu immer mehr Leistung angespornt.„So werden die Wärme und die Geborgenheit des Elternhauses torpediert“, sagt Andreas Machenheimer. Und seine Kollegin Silke Groß weiß auch, wie sich Unsicherheit und Frust bei betroffenen Kindern äußern können: Sie enden oft als die berühmten „Klassenclowns“. Machenheimer ist sich sicher: „Das Schlimme ist die Panik der Eltern“, die in Aktionismus verfielen. Mit speziellen Förderprogrammen arbeiten die beiden Lerntrainer einmal wöchentlich pro Fach mit den Kindern und Jugendlichen. Lautbewusstseinstraining gehört dazu, Lautanalyse, die Silbengliederung, im Falle einer Dyskalkulie das Training des Zahlen- und Mengenverständnisses. Oft beginnt es hier aber da mit, Dinge nach Farben zu ordnen, im wahrsten Sinne zu „begreifen“, wie Silke Groß erzählt. Was für viele Kinder in der Grundschule „babyleicht“ ist, stellt andere vor eine schier unüberwindliche Hürde. Dyskalkulie und Legasthenie können angeboren sein, sie können sich aber auch erst entwickeln – beispielsweise dann, wenn in entscheidenden Phasen die entsprechende Förderung fehlt. Kommen dann noch Umbrüche wie zum Beispiel die Trennung der Eltern hinzu, fällt das Kind in den Brunnen, bevor es jemand merkt. Es gehe darum, wieder Spaß am Lernen zu vermitteln, erläutert Andreas Machenheimer. Der war ihm selbst zwischenzeitlich fast verloren gegangen, konnte er während des Stütz- und Förderunterrichts für die CJD-Auszubildenden doch lange einfach nicht verstehen, was in den Köpfen seiner Schützlinge vor sich ging, die auch scheinbar einfachste Dinge wiederholt nicht begreifen konnten. „Ich bin fast verrückt geworden!“ Erst mit der Ausbildung zum Lerntrainer für Dyskalkulie und Legasthenie eröffneten sich auch ihm neue Horizonte. Häufig lägen auch Konzentrationsstörungen vor, weiß er heute. Und noch eines: „Diese Schwäche hat nichts mit der Intelligenz zu tun!“ Bevor die Kinder an dem Lerntraining teilnehmen, durchlaufen sie eine Testung,

entweder in Sprach- oder in Rechenkompetenz. Diese ist zwar nicht mit einer ärztlichen Testung vergleichbar, eröffnet aber erste Perspektiven. Es folgt ein Elterngespräch, in dem die Empfehlung ausgesprochen wird, einen Kinder- und Jugendpsychiater hinzuzuziehen, da sie, wie die Lerntrainer betonen, nur an den Symptomen einer unter Umständen komplexeren Problematik arbeiten. Mit einem entsprechenden Attest ist auch die Kostenübernahme gesichert, ein Muss ist dies freilich nicht. Ohnehin sucht das CJD jeweils individuelle Wege, wenn es ums Finanzielle geht. Marvin jedenfalls fühlt sich inzwischen gut aufgehoben und macht die Erfahrung, dass es gut ist, zu lernen. „Im ersten Lehrjahr wird man hier schon ziemlich gebraucht!“, lächelt er. Und gebraucht

werden will schließlich jeder.

Quelle: Siegener Zeitung

 

Schwerpunkte in der Ausrichtung des CJD Siegen-Wittgenstein sind die Kinder- und Jugendhilfe sowie Maßnahmen im Auftrag der Agentur für Arbeit und des örtlichen Jobcenters.